Ergenzingen 2100

Silvester 2021

ich mache mir Gedanken über das vergangene Jahr und wage einen energiepolitischen Ausblick bis zum Jahr 2100. Macht es überhaupt Sinn drüber nachzudenken was uns 2100 bringt? Ist das nicht so weit weg wie die nächste Galaxie? Wenn Sie im Januar 2022 dieses BfE-Blättle lesen, sind es noch 77 Jahre und 11 Monate bis 2100, unsere Kinder und Enkel die 2022 neugeboren werden, haben eine durchschnittliche Lebenserwartung von 81 Jahren, sie werden also alle Veränderungen bis dahin miterleben. Eine funktionierende und lebenswerte Umwelt werden die jungen Ergenzinger nur dann haben, wenn wir heute mutig, verantwortungsvoll und mit Weitsicht handeln. Wir leben in einer sehr schnelllebigen Zeit, schon das jetzt endende Jahr war voller Überraschungen.
                                                                                2021  
Am Jahresanfang wurde in Deutschland eine CO2-Bepreisung für die Sektoren Verkehr und Wärme eingeführt. Es war der einzige ernsthafte Versuch der großen Koalition innerhalb von 16 Jahren, den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen voran zu treiben. Dummerweise kam es im gleichen Jahr an den Rohstoffmärkten zu drastischen Preissprüngen. Erdgas und Strom verteuerten sich an der Energiebörse um ein Vielfaches - sehr schmerzhaft für die Verbraucher. Gerade beim Gas wird deutlich, wie abhängig Deutschland von Energieimporten ist.    
Nach den Landtagswahlen im März hat die neue Grün-Schwarze Landesregierung ein neues Klimaschutzgesetz beschlossen. Jetzt heißt es: mehr Photovoltaik-Anlagen auf den Dächern im Land, mehr Windkraft und CO2-Neutralität bis 2040. Dabei geht es vor allem um die Zukunft der jungen Generation.
Im April wird klar, dass der zukünftige deutsche Strombedarf bisher viel zu niedrig angesetzt wurde. Das Handelsblatt berichtet über die “Stromlüge der Bundesregierung“ und beschreibt, wie die damals regierende Große Koalition mit falschen Prognosen Deutschlands Energiezukunft gefährdet. Die Wirtschaft blickt jedenfalls mit immer größerer Sorge auf die wackelige Strom-Versorgungslage.   
Im Mai wurde das Energiefeld für das Neubaugebiet Öchsner II angeschlossen. Es besteht aus 164 Kollektoren, die unter einem Acker verlegt wurden. Geheizt wird zukünftig also mit Erdwärme und Ökostrom.   
September. Einen SPD-Sieg bei der Bundestagswahl hatte wohl niemand auf dem Plan. Im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung wird Klimaschutz großgeschrieben, jedes Gesetz muss zukünftig einen Klimacheck durchlaufen. Dass dafür eine Transformation des Energiesystems notwendig wird, ist Konsens. Es ist die größte Herausforderung seit Beginn der Industrialisierung.
An immer mehr Ergenzinger Häusern sieht man jetzt eine Wallbox, auch Hausbesitzer ohne Elektroauto haben die 900 € Förderung gerne angenommen. Das macht Sinn, denn bei der Elektromobilität ist 2021 der Knoten geplatzt, die kritischen Stimmen sind weitgehend verstummt. Weltweit überbieten sich die Hersteller mit der Ankündigung neuer E-Autos. Tesla verkaufte 2021 in Deutschland bereits so viele Pkw wie Seat oder Toyota. Unsere Stadtwerke mussten am Jahresende viele neue Kunden aufnehmen: Da einige Energieversorger die massiven Preissprünge nicht überstanden haben, rutschen deren Kunden automatisch in die Grundversorgung. Am 31.12. gehen in Deutschland drei Atomkraftwerke vom Netz, darunter Gundremmingen bei Günzburg [1].
                                                                            2022
Ab 1. Januar gilt in Baden-Württemberg eine PV-Pflicht für neue Nicht-Wohngebäude. Ebenfalls am Jahresanfang startet der erste Teil der EU-Taxonomie. Die komplexe Richtlinie soll die Finanzierung des EU Green Deals sicherstellen und Europas Klima-neutralität bis 2050 ermöglichen. Noch nicht entschieden ist, ob Atommeiler in den Katalog nachhaltiger Anlageprojekte aufgenommen werden. Passiert das, könnten in anderen EU-Ländern Milliarden an Investitionen fließen und die völlig unrentablen AKWs einen letzten Aufschwung erleben. Die großen deutschen Kraftwerksbetreiber sind nicht mehr bereit in Atomkraft zu investieren, da die Stromgestehungskosten bei Photovoltaik und Windkraft deutlich günstiger sind – von den Folgekosten ganz zu schweigen. Ende 2022 ist dann in Deutschland endgültig Schluss mit der Strom-gewinnung aus Atomkraft [2].    
In Zukunft wird alles klimaneutral, so wie heute alles ein Preisschild hat, so bekommen Waren und Dienstleistungen ihren individuellen CO2-Wert. Pkw-Hersteller arbeiten an komplett klimaneutral produzierten Fahrzeugen, d. h. alle Teile und Vorprodukte die ans Band geliefert werden, müssen vom Zulieferer CO2-frei produziert werden. Damit wird grüner Ökostrom zur Basis für den wirtschaftlichen Erfolg in unserer Region, ohne eine funktionierende lokale Stromversorgung kann unser Wohlstand in Zukunft nicht garantiert werden.     
                                                                                   2035
Die Pflegeheime werden immer voller. Das ist keine Überraschung, der demographische Wandel war lange bekannt, gleichzeitig kommt es in den großen Wohngebieten aus den 1970er und 1980er Jahren zu immer mehr Leerständen. Deutschlands Bevölkerung schrumpft, auch das war schon lange bekannt. Das letzte Kohlekraftwerk geht vom Netz, gleichzeitig sorgt die Umstellung der Stahlwerke und der Chemieindustrie auf grünen Wasserstoff für eine stark steigende Nachfrage nach grünem Ökostrom. Getrieben durch Künstliche Intelligenz und Quanten-Computing hat die Technik gewaltige Fortschritte gemacht. Fotovoltaik wird immer effektiver und kommt als preiswerte Folie überall zum Einsatz, auch auf Solarmobilen [3]. Neue, umweltfreundliche Stromspeicher können viele Tage ohne Sonne und Wind überbrücken. Das neue Fernwärmenetz der Stadtwerke versorgt große Teile der Kernstadt, Weiler und Kiebingen. In den Ortschaften haben sich Nahwärmegenossenschaften gebildet, der private Betrieb von Heizungen war in älteren Gebäuden nicht mehr wirtschaftlich.
                                                                                  2045
In der Region hat der Abbau der großen Freiflächenanlagen und Windräder aus den 20er Jahren begonnen. Wegen der Autobahnnähe hat Ergenzingen die einzige verbliebene Tankstelle im Landkreis Tübingen. Erdöl ist der wichtigste Rohstoff der Chemischen Industrie, es ist zu wertvoll um es zu verbrennen. Alle Rohstoffe werden jetzt in geschlossenen Recycling-Kreisläufen gehalten. Restmüll ist selten geworden und steht als Brennstoff nicht mehr zur Verfügung, dadurch musste der Zement-hersteller bei Balingen schon vor Jahren aufgeben. Unser Wirtschaftssystem ist nachhaltiger geworden. Das Höher-schneller-weiter um jeden Preis der früheren Wegwerfgesellschaft war mit den vorhandenen globalen Ressourcen nicht mehr möglich.          
                                                                                  2070
Es ist ruhig geworden in Ergenzingen, nach dem Rückbau der Autobahn A81 ist die neue Magnetschwebebahn zum wichtigsten Verkehrsmittel geworden, mit ihren autonomen Kabinen und Güterkapseln sind wir jetzt schnell und flexibel an alle Ballungszentren angebunden. Rund um Ergenzingen haben wir viele ehemalige Gewerbeflächen die kaum noch genutzt werden – kein schöner Anblick.   
                                                                                  2100
Laut UN leben im Jahr 2100 ca. 11 Milliarden Menschen auf der Erde [4]. Wenn unser Planet nicht kollabieren soll, müssen diese Menschen alle mit erneuerbaren Energien versorgt werden. Diese muss auf Dauer bezahlbar bleiben, damit die energieintensive Produktion von Kunstdünger ein lukratives Geschäft bleibt, sonst kommt es zu einer humanitären Katastrophe. Nur auf einem kleinen Teil der Erdoberfläche gibt es fruchtbare Humusböden, diese gilt es vor Erosion und Bebauung zu schützen und langfristig zu erhalten. Zum Glück kümmert die BfE sich seit 80 Jahren erfolgreich um das Thema Flächenschutz. Unsere Landwirte leiden unter der zunehmenden Trockenheit. Viele Felder werden künstlich bewässert, das geht nur, wenn es im Winterhalbjahr genug Niederschläge gab. Ergenzingen wächst wieder: Viele Spanier leben jetzt bei uns, da die iberische Halbinsel unter extremen Dürren leidet und Südspanien zur Wüste wurde [5]. Hier im Ort kann man tatsächlich noch Benzin kaufen: In der Marien-Apotheke.        
Quellenangaben
[1] https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/drei-atomkraftwerke-vom-netz-1991348
[2] „Kernkraftwerke in Deutschland“, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz,
      nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, 21. Juni 2021
[3] https://lightyear.one
[4] https://countrymeters.info/de/World und Vereinte Nationen https://population.un.org  
[5] https://www.scinexx.de/news/geowissen/wo-liegen-europas-duerre-hotspots  

Erdkollektorenfeld im Baugebiet Oechsner Ergenzingen